Dr. Stefan Frerichs

Bücher: Doktorarbeit (Besprechungen)

 

Armin Scholl zu...
"Bausteine einer systemischen Nachrichtentheorie"
(in: Medien & Kommunikationswissenschaft, 3/2001)

Der Autor ist Journalistik-Wissenschaftler und tätiger Journalist. Seine Beobachtungen sind nicht streng methodisch kontrolliert, sondern Reinterpretationen des journalistischen Alltags aus der Perspektive des (radikalen) Konstruktivismus und der Chaostheorie. Mit dem Konstruktivismus verabschiedet er sich in struktureller Hinsicht von repräsentationistischen Vorstellungen, wonach journalistische Nachrichten (mehr oder weniger gut) eine außerjournalistische Wirklichkeit abbildeten bzw. dazu in der Lage seien. In prozessualer Hinsicht impliziert die Chaostheorie eine Abkehr von linearer Aussagenproduktion hin zu nicht-linearen Zusammenhängen bei der Entstehung von Nachrichten.
Interessant ist dabei, dass sich Frerichs explizit von Luhmanns Systemtheorie absetzt und soziale Systeme personal definiert. Damit argumentiert er a) nicht auf der Makro-Ebene funktionaler Gesellschaftssysteme, sondern auf der organisatorischen Meso-Ebene und konzipiert b) nicht Kommunikationen, sondern Kognitionen und Handlungen als Basiseinheiten von Systemen. Dass dies nicht unproblematisch ist, werde ich weiter unten erörtern.
Nach der “Grundsteinlegung”, die in das gesamte Buch einführt, baut er die beiden “Ecksteine” der Chaostheorie und des Konstruktivismus auf. Beide Kapitel sind so klar und übersichtlich geschrieben, dass man sie hervorragend als Lehrbucheinführung benutzen kann. Der Autor definiert alle Begriffe sehr verständlich und hat dafür penibel recherchiert - sogar die vollständigen zweiten Vornamen der zitierten Wissenschaftlerlnnen, die üblicherweise nur abgekürzt erwähnt werden.
Als “Stützsteine” bezeichnet er die folgende Kritik der klassischen Nachrichtenforschung. Diese Kritik bezieht sich auf die Vorstellung eines linearen Nachrichtenflusses und die Konzeption objektiver Nachrichten. Oft argumentiert Frerichs mir bekannten Nachrichtentheorien gegen diese selbst. Alle Ausführungen werden ausführlich belegt und immer wieder durch Definitionen systematisiert. Auf diese Weise entsteht eine konstruktive Auseinandersetzung, welche die klassischen Theorien - diese freundlich einvernehmend - in die eigene Konzeption integriert.
Ebenfalls zu den Stützsteinen gehören die konstruktivistischen und chaostheoretischen Reinterpretationen der Nachrichtenproduktion. Im fünften und sechsten Kapitel werden die beiden Leittheorien auf den Nachrichtenjournalismus angewendet, was zunächst jedoch nur eine Begriffsübertragung und Beschreibung mit neuer Perspektive ist. Deutlich wird aber auch der Mehrwert dieser Theorien gegenüber den bisher gehandelten Theorien. Sie sind präziser und - der Autor weiß das aus seiner vielfältigen journalistischen Praxis - praxisnäher trotz ihres hohen Abstraktionsgrades. In diesen Kapiteln werden zudem populäre Missverständnisse korrigiert, etwa dass Chaos mit Zufälligkeit und folglich mit Unerklärbarkeit gleichzusetzen wäre oder dass Konstruktion Beliebigkeit von Welterzeugung impliziere. Frerichs gebraucht die Theoriebegriffe wie Unschärfe und Selbstorganisation nicht als schön klingende Wissenschaftsmetaphorik, sondern konkret als Beschreibungs- und Erklärungsinstrument. Auch dies ist ein Ausweis der Seriosität seines Vorgehens.
Die individualistische Ausgangsbasis des Konstruktivismus führt dazu, dass auch informale Rollen und Persönlichkeitseigenschaften als Erklärungsfaktoren berücksichtigt werden (sollen). Dem Autor gelingt es, bestimmte Prozesse der Nachrichtenentstehung chaostheoretisch zu interpretieren und daraus chaostheoretische Thesen abzuleiten. Damit wird die Theorieninnovation bis zum vorletzten Schritt vorangetrieben. Was noch fehlt, ist eine Formalisierung der Thesen, die einen echten empirischen Test ermöglicht, der über die beispielhafte Illustration hinausgeht.
Immerhin bleibt Frerichs nicht bei seinen theoretischen Überlegungen stehen, die für sich genommen bereits eine Dissertation voll gerechtfertigt hätten, sondern bemüht sich um eine explorative Empirie. Für die Untersuchung der Ereignisentwicklung und die “Überprüfung” der chaostheoretischen Thesen sammelte er das vollständige Material von sieben Nachrichtenagenturen zu einem unerwarteten Ereignis. Darüber hinaus diente ein ein- bis dreitägiger Besuch bei den Nachrichtenredaktionen von acht öffentlich-rechtlichen, vier privat-kommerziellen Hörfunksendern und von drei Nachrichtenagenturen der Beobachtung der stundenaktuellen Berichterstattung. Mit dieser Methode identifiziert er 13 Arbeitsschritte von der ersten Ereigniswahrnehmung bis zur publizierten Nachricht und klassifiziert er die Redaktionsorganisationen. Es handelt sich hierbei nicht um eine systematische Einzelfallstudie, sondern eher um einen unsystematischen Vergleich. Dem jeweils ersten, beschreibenden Teil folgt die Ableitung der Thesen. Dies ist nicht die schlechteste Art, gleichermaßen induktiv und deduktiv zu Thesen zu gelangen. Geradezu nebenbei wird der im Konstruktivismus und in der Systemtheorie so wichtige Kopplungsbegriff präzisiert, dies allerdings nicht durch eine Definition, sondern durch die qualitativen Auswirkungen der Kopplung: Koordination, Kooperation, Konsens, Konvention, Kreativität und Kontrolle.
Dennoch setzt hier die Kritik an Frerichs' Vorgehensweise ein. Die Thesen (S. 298 ff.) enthalten zumeist nicht Zusammenhangspostulate mehrerer Variablen, sondern beschreiben eher die Operationalisierungsbereiche der einen Variablen Qualität der Nachrichtenkonstruktion. Der Qualitätsbegriff als abhängige Variable wird selbst allerdings nicht definiert.
Problematisch ist ferner die oben bereits erwähnte Unterstellung einer Emergenz vom System "Mensch" bzw. von der Person auf das soziale System der (Nachrichten-)Redaktion, das wiederum als Teil des Systems Nachrichtenjournalismus angesehen wird. Frerichs stellt sich damit gegen das Verständnis von Luhmann und Rühl, ohne die Frage, wie der Übergang von Person zu Organisation und zu Funktionssystem möglich sei, ausreichend beantworten zu können. Wenn tatsächlich persönliche Charakteristika der Nachrichtenredakteure in einzelne Entscheidungen der Nachrichtenkonstruktion eingehen, so ist dies nicht mehr auf eben diese persönlichen Eigenschaften - und Frerichs meint hier nicht nur die berufsbezogenen, sondern prinzipiell alle individuellen Eigenschaften - zurückführbar. Der Grund dafür besteht darin, dass trotz Makrostabilität (des Journalismus) Mikrodiversität (der Journalisten als Personen!) möglich und notwendig ist. Emergenz ist gerade dadurch definiert, dass sie nicht umkehrbar ist. Es wäre schon forschungsökonomisch unmöglich, alle möglichen individuellen Eigenschaften zu erfassen, um je individuell diejenigen zu identifizieren, die in bestimmten Situationen handlungsrelevant werden konnten. Welche Persönlichkeitsmerkmale im Einzelnen eine Rolle spielen bei der Nachrichtenkonstruktion, ist nicht vorhersehbar - so müsste man mit dem Chaostheoretiker Frerichs gegen ihn selbst argumentieren. Da folglich nur wenige Variablen erhoben werden können, ist die Konzentration auf systemisch-professionelle Eigenschaften der Journalisten und der Organisationen erforderlich. Der Erkenntnisgewinn der Systemtheorie besteht gerade darin, die Mikrostrukturen der individuellen Persönlichkeit als Rauschen auszublenden und trotzdem die Makrostrukturen beobachten zu können. Persönlichkeitsmerkmale interferieren a) eher zufällig statt systematisch und b) eher punktuell statt generell. Das Hauptproblem besteht dann nicht in der Identifikation aller möglicher Einflüsse, sondern in der Auswahl der relevanten Variablen: Wie weit reichen das Geschlecht, die politische Einstellung usw. systematisch (überzufällig) in systemische Abläufe hinein?
Frerichs dehnt schließlich den Anspruch seiner Studie über den analytischen Wert aus und formuliert qualitätsbezogene und ethische Implikationen aus Chaostheorie und Konstruktivismus. Dies ist keineswegs ungewöhnlich, da diese Basistheorien selbst stets den Zusammenhang zur Ethik hergestellt haben. Der Katalog, den Frerichs zusammenstellt, deckt sich dabei durchaus in weiten Bereichen mit herkömmlichen Anforderungsprofilen, er ist jedoch theoretisch deutlich besser hergeleitet und besser an die Praxis angepasst, als dies ohne Konstruktivismus und Chaostheorie und deren Übertragung auf die Redaktionsorganisation und die Nachrichtenkonstruktion möglich gewesen wäre. Allerdings ist deutlich zu trennen zwischen der Normbegründung und der Normdurchsetzung, wie wir von Habermas lernen können. Eine Norm lässt sich nur dann durchsetzen oder anwenden, wenn es die Umstände erlauben und die betreffenden Normanwender die Normbegründung als solche akzeptieren. Die Akzeptanz der Norm kann man - neben einer guten Begründung - dadurch steigern, wenn man nachweisen kann, dass die Norm auch funktioniert und nicht als bloßes Ideal unerreichbar ist. Für die Journalistik und Journalismusforschung bedeutet dies, dass sie ihre normativen Vorschläge gut und verständlich begründen muss, um Resonanz im Journalismus zu erreichen. Ein Buch wie dieses ist glaubwürdig und einer verständnisorientierten Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis förderlich, weil es von einem Praktiker stammt, der sich die Mühe gemacht hat, theoretisch zu arbeiten, um für die Praxis einen Nutzen zu erreichen.

Armin Scholl

 
Bausteine einer systemischen Nachrichtentheorie, Doktorarbeit
 
   


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