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Ingrid A. Uhlemann
zu...
"Bausteine einer systemischen Nachrichtentheorie"
(in:
Der Nachrichtenwert
im situativen Kontext. Eine Studie zur Auswahlwahrscheinlichkeit
von Nachrichten, Wiesbaden 2012,
S. 46 ff.)
“2000
veröffentliche Stefan Frerichs eine Arbeit, die es sich zum
Ziel setzt, "die bereits vorhandenen Modelle zur Auswahl
und Gestaltung von Nachrichten in einen neuen Systemzusammenhang
einzubinden und fortzuentwickeln" (Frerichs 2000: 17).
Er geht bei seinen theoretischen Überlegungen von einer radikal
konstruktivistischen Perspektive aus. Die von ihm zusammengetragenen
Theoriebausteine liefern einige interessante neue Perspektiven
auf Nachrichten und Nachrichtenauswahl. So sind für ihn Nachrichtenfaktoren
Konstruktionsprinzipien, nach denen Beobachter Ereignisse erkennen
und berichten.
Frerichs verknüpft für seine theoretischen Überlegungen
die Befunde der Forschungsfelder Nachrichtenwertforschung und
Gatekeeperforschung mit den eigenen Beobachtungen aus dem Berufsalltag
als Nachrichtenredakteur im Hörfunk und versucht sie mit
Hilfe chaostheoretischer Bausteine neu zu beschreiben. Sein Ziel
ist es dabei weniger, die Nachrichtenauswahl im empirischen Sinn
zu erklären, sondern er leitet aus den von ihm erarbeiteten
Thesen einer Nachrichtentheorie verschiedene Nachrichtengrundsätze
ab, "die als praktische Richtlinien für einen ethischen
(Nachrichten-)Journalismus dienen können" (Frerichs
2000: 353).
Die von
ihm in Form von sieben Thesen herausgearbeiteten "Bausteine
einer systemischen Nachrichtentheorie" stellen beachtenswerte
Innovationen im Forschungsfeld Nachrichtenauswahl dar. Sie versuchen,
die Komplexität der Zusammenhänge im System Nachrichtenjournalismus
umfassend zu beschreiben.
Aus
der konstruktivistischen Perspektive von Frerichs erübrigt
sich die Frage nach einer objektiven Auswahl "wahrer"
Ereignisse, weil beides aus dieser erkenntnistheoretischen Perspektive
nicht möglich ist. Aus konstruktivistischer Sicht ist ein
Ereignis erst Wirklichkeit, wenn es von einem kognitiven System
als solches erkannt wird. Eine Nachrichtenauswahl im reinen Sinne
des Begriffs kann es aus dieser Perspektive gar nicht geben, weil
ohne einen Beobachter keine Ereignisse existieren. Die Entstehung
von Nachrichten ist dann davon abhängig, dass Ereignisse
durch Beobachter den Massenmedien mitgeteilt werden. Nachrichten
werden als journalistische Berichterstattungen von Ereignissen
in der Form von Meldungen oder Berichten aufgefasst (Frerichs
2000: 10).
Nachrichten sind damit Wirklichkeitskonstruktionen, die ganz bestimmte
formale Bedingungen erfüllen und spezifischen Konstruktionsbedingungen
unterliegen. Diese Nachrichten(wirklichkeits)-konstruktion unterteilt
Frerichs in die Bereiche Beobachtung, Bewertung und Beschreibung.
Als Beobachter agieren Journalisten, wenn sie bewusst eigene Wahrnehmungen
machen, und wenn sie aus Wahrgenommenem Ereignisse identifizieren.
Als Bewertende agieren sie, wenn sie Wahrnehmungen in einen neuen
Gesamtzusammenhang einordnen. Diesem Bereich ist auch die Nachrichtenauswahl
zuzuordnen. Beschreibend sind sie tätig, indem sie die eigenen
und die geordneten Wahrnehmungen anderer schriftlich (oder auch
mündlich) weitergeben (Frerichs 2000: 197f.).
Diese Beobachtung, Bewertung und Beschreibung erfolgt nach Frerichs
nicht vollkommen frei, sondern sie ist von bestimmten Prinzipien
und Mechanismen beeinflusst, die zum Teil in der Natur des Subjekts,
zum Teil in der "Natur" des zu gestaltenden Objekts
und zum Teil in der Situation begründet sind.
"Zum
einen gilt auch für Ereignisse, dass ein (journalistischer)
Beobachter sie durch möglichst deutliche Gegensätze
(Kontraste) oder Umrisse (Konturen) abgrenzt. [...]
Zum anderen werden Wahrnehmungen umso eher einem Ereignis zugeordnet,
je einfacher dies durch ihre Ähnlichkeit (Gleichartigkeit,
Symmetrie) oder Gruppierung (räumliche, sachliche, zeitliche
Nachbarschaft) möglich ist. [...] Des weiteren
werden Wahrnehmungen umso eher in Ereignisse einbezogen, je
mehr Gleichmäßigkeit (Kontinuität) oder Zusammenpassen
(Kohärenz) sie hinsichtlich anderer Ereignisse aufweisen"
(Frerichs 2000: 201).
Neben
den Gestaltfaktoren sind noch verschiedene Schemata wirksam, etwa
zur Einschätzung neuer Informationen, zur Ergänzung
unvollständiger Situationen oder zur Bewältigung von
Problemen (Frerichs 2000: 204).
Diese Gestaltprinzipien erklären für Frerichs (2000:
235) die Nachrichtenfaktoren bzw. sind die Dimensionen, die hinter
den verschiedenen Nachrichtenfaktoren liegen.
Er liefert somit eine theoretische Begründung für die
von Staab (1990) und Kepplinger (1989a; 1989b) bereits festgestellte
wechselseitige Kausalbeziehung, die auch das instrumentelle Auswählen
und Gestalten erklären kann, und den allgemeinen empirischen
Befund, dass sich die Nachrichtenfaktoren systematisch in Nachrichten
beobachten lassen.
Dabei scheint Frerichs Nachrichtenansatz wieder näher an
die Theorie von Galtung & Ruge (1970) heranzurücken,
die die Nachrichtenfaktoren in der Wahrnehmung begründet
sehen. Die zu deren Erklärung von Frerichs herangezogenen
Gestaltprinzipien (Kontrast, Kontur, Gleichartigkeit, Nachbarschaft,
Kontinuität und Kohärenz) sind allerdings keine absoluten
Ereignis- oder Wahrnehmungseigenschaften, sondern ergeben sich
immer in Relation zu anderen Ereignissen und Geschehnissen. Hinzu
kommt, dass die Nachrichtenfaktoren aus Frerichs' wissenschaftstheoretischer
Perspektive keine objektiven oder intersubjektiv nachvollziehbaren
Eigenschaften der Ereigniswelt sein können, sondern dass
sie an das Subjekt gebunden sind - entweder an den einzelnen Gatekeeper
oder, nimmt man eine systemische Perspektive wie Frerichs ein,
an ein soziales System Nachrichtenjournalismus insgesamt bzw.
an einzelne Redaktionen. Eine Reduktion der sich im Verlauf der
Nachrichtenforschung immer stärker ausdifferenzierten Nachrichtenfaktorenkataloge
auf einige dahinter liegende, allgemeingültige Ereignisdimensionen
- eine Idee, die von Schulz (1990: 32) angedacht und auch von
Staab (1990: 136) bei seinen Auswertungen versucht wurde - wird
damit per se ausgeschlossen.”
Ingrid
A. Uhlemann
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