Achim Baum
zu...
"Bausteine einer systemischen Nachrichtentheorie"
(in:
Publizistik – Vierteljahreshefte der Kommunikationsforschung,
3/2001)
“Sympathie.
Das ist der erste Eindruck, den die Arbeit von Stefan Frerichs
vermittelt. Hier hat endlich mal wieder jemand aus der Perspektive
der gesättigten Alltagserfahrung eines (Nachrichten-)Journalisten
die Mühe auf sich genommen, sein Geschäft durch die Brille der
Kommunikationswissenschaft zu betrachten. Eine Vielzahl konkreter
Beispiele mit denen sich Journalistinnen und Journalisten jeden
Tag herumschlagen, werden unter dem Blickwinkel betrachtet, ob
sie kommunikationstheoretisch plausibel nachzuvollziehen, ob die
Situationen, in denen sie bearbeitet werden müssen, gar mit Hilfe
der Theorie zu meistern sind. Und wer so daran geht, dem - wie
sollte es anders sein - wird bald klar, dass sich “komplexe Entscheidungen
bei der Auswahl und Gestaltung von Nachrichten nicht mit den gängigen
Kommunikationstheorien und klassischen Nachrichtenmodellen erklären
lassen.” (S. 14) Bei etlichen Rundfunkredaktionen und bei
Nachrichtenagenturen hat Frerichs recherchiert, um seine eigenen
Berufserfahrungen zu stützen. Seine wissenschaftliche Lektüre,
speziell zu den Bereichen Nachrichten- und Journalismustheorie,
zur Systemtheorie, zur Chaostheorie und zum Konstruktivismus ist
beeindruckend belegt. Sein Stil wirkt erfreulich unprätentiös,
ganz so, wie man es von einem “an der Kommunikationstheorie interessierten
Nachrichtenjournalisten” (S. 17) erwartet.
So tritt Frerichs mit dem kühnen Vorhaben an, eine “neue, systemische
Nachrichtentheorie” zu konstruieren. Und er fühlt sich dabei offenbar
wie ein wahrer Baumeister: Seine Kapitel sind überschrieben als
“Vorbau”, “Grundstein”, “Ecksteine”, “Stützsteine”, “Bausteine”,
Schußstein” und “Anbau”. Das ist mäßig witzig. Aber es bleibt
nicht ohne Effekt: Denn die anfängliche Sympathie beginnt im Baustellenlärm
zu versiegen. “Grundlage dieser Arbeit ist ein systemtheoretischer
Ansatz” (S. 19), schreibt der Autor, zitiert und bibliographiert
Luhmann später rauf und runter, um uns einleitend mit der Definition
zu überraschen, soziale Systeme bestünden “aus einzelnen Lebewesen
- und beispielsweise nicht aus Kommunikation, wie der deutsche
Soziologe und Jurist Niklas Luhmann (1927-1998) meint.” (S. 19f.)
Das kann nicht komisch, sondern nur wissenschaftlich gemeint sein
- auch wenn der Autor uns mit seinen sprachlichen Kapriolen (und
den Ergebnissen seiner Lektüre des Dudens, Band 12: Zitate
und Aussprüche) permanent bei Laune zu halten versucht. Daraus
resultieren dann Kapiteluntertitel wie “Die Welt - alles Wille,
oder was?”, zitiert “frei nach dem deutschen Philosophen Arthur
Schopenhauer (1788-1860) und der Molkerei Alois Müller GmbH &
Co, Aretsried.” (S. 86)
Die Arbeit Frerichs’ leidet deutlich unter dieser angestrengten
Witzigkeit. Nahezu jeder Abschnitt wird so eingeleitet und mit
müden Zitaten befrachtet, die in irgendeinen, an Banalität kaum
zu unterbietenden Bezug zum Thema des jeweiligen Kapitels gesetzt
werden. Dabei ist sein theoretischer Ansatz durchaus diskussionswürdig,
seine Herangehensweise originell: Nach einer ausführlichen Darstellung
seiner theoretischen Grundlagen aus Chaostheorie (S. 24ff.)
und Konstruktivismus (S. 57ff.) und der eingehenden Würdigung
bisheriger Nachrichtentheorien (S. 111ff.), entwickelt er
seine Gedanken über Nachrichtenfluss und -gestaltung in der Redaktion
(S. 179ff.). Seine Thesen zur Konstruktion von Nachrichten
münden in ethischen Überlegungen, die Qualität und Grundregeln
eines guten Nachrichtenjournalismus betreffend. Dabei werden die
pragmatisch entwickelten Regelwerke des alltäglichen Nachrichtenjournalismus
durchaus ernst genommen. Und der Kommunikationswissenschaft wird
die Aufgabe zugeschrieben, deren Brauchbarkeit zu überprüfen und
an der Verbesserung durch die Formulierung “idealer Nachrichtengrundsätze”
mitzuwirken. Das ist - ganz nüchtern betrachtet - bedenkenswert
und durchaus sympathisch.”
Achim
Baum