Armin Scholl
zu...
"Bausteine einer systemischen Nachrichtentheorie"
(in:
Medien & Kommunikationswissenschaft, 3/2001)
“Der
Autor ist Journalistik-Wissenschaftler und tätiger Journalist.
Seine Beobachtungen sind nicht streng methodisch kontrolliert,
sondern Reinterpretationen des journalistischen Alltags aus der
Perspektive des (radikalen) Konstruktivismus und der Chaostheorie.
Mit dem Konstruktivismus verabschiedet er sich in struktureller
Hinsicht von repräsentationistischen Vorstellungen, wonach journalistische
Nachrichten (mehr oder weniger gut) eine außerjournalistische
Wirklichkeit abbildeten bzw. dazu in der Lage seien. In prozessualer
Hinsicht impliziert die Chaostheorie eine Abkehr von linearer
Aussagenproduktion hin zu nicht-linearen Zusammenhängen bei der
Entstehung von Nachrichten.
Interessant ist dabei, dass sich Frerichs explizit von Luhmanns
Systemtheorie absetzt und soziale Systeme personal definiert.
Damit argumentiert er a) nicht auf der Makro-Ebene funktionaler
Gesellschaftssysteme, sondern auf der organisatorischen Meso-Ebene
und konzipiert b) nicht Kommunikationen, sondern Kognitionen und
Handlungen als Basiseinheiten von Systemen. Dass dies nicht unproblematisch
ist, werde ich weiter unten erörtern.
Nach der “Grundsteinlegung”, die in das gesamte Buch einführt,
baut er die beiden “Ecksteine” der Chaostheorie und des Konstruktivismus
auf. Beide Kapitel sind so klar und übersichtlich geschrieben,
dass man sie hervorragend als Lehrbucheinführung benutzen kann.
Der Autor definiert alle Begriffe sehr verständlich und hat dafür
penibel recherchiert - sogar die vollständigen zweiten Vornamen
der zitierten Wissenschaftlerlnnen, die üblicherweise nur abgekürzt
erwähnt werden.
Als “Stützsteine” bezeichnet er die folgende Kritik der klassischen
Nachrichtenforschung. Diese Kritik bezieht sich auf die Vorstellung
eines linearen Nachrichtenflusses und die Konzeption objektiver
Nachrichten. Oft argumentiert Frerichs mir bekannten Nachrichtentheorien
gegen diese selbst. Alle Ausführungen werden ausführlich belegt
und immer wieder durch Definitionen systematisiert. Auf diese
Weise entsteht eine konstruktive Auseinandersetzung, welche die
klassischen Theorien - diese freundlich einvernehmend - in die
eigene Konzeption integriert.
Ebenfalls zu den Stützsteinen gehören die konstruktivistischen
und chaostheoretischen Reinterpretationen der Nachrichtenproduktion.
Im fünften und sechsten Kapitel werden die beiden Leittheorien
auf den Nachrichtenjournalismus angewendet, was zunächst jedoch
nur eine Begriffsübertragung und Beschreibung mit neuer Perspektive
ist. Deutlich wird aber auch der Mehrwert dieser Theorien gegenüber
den bisher gehandelten Theorien. Sie sind präziser und - der Autor
weiß das aus seiner vielfältigen journalistischen Praxis - praxisnäher
trotz ihres hohen Abstraktionsgrades. In diesen Kapiteln werden
zudem populäre Missverständnisse korrigiert, etwa dass Chaos mit
Zufälligkeit und folglich mit Unerklärbarkeit gleichzusetzen wäre
oder dass Konstruktion Beliebigkeit von Welterzeugung impliziere.
Frerichs gebraucht die Theoriebegriffe wie Unschärfe und Selbstorganisation
nicht als schön klingende Wissenschaftsmetaphorik, sondern konkret
als Beschreibungs- und Erklärungsinstrument. Auch dies ist ein
Ausweis der Seriosität seines Vorgehens.
Die individualistische Ausgangsbasis des Konstruktivismus führt
dazu, dass auch informale Rollen und Persönlichkeitseigenschaften
als Erklärungsfaktoren berücksichtigt werden (sollen). Dem Autor
gelingt es, bestimmte Prozesse der Nachrichtenentstehung chaostheoretisch
zu interpretieren und daraus chaostheoretische Thesen abzuleiten.
Damit wird die Theorieninnovation bis zum vorletzten Schritt vorangetrieben.
Was noch fehlt, ist eine Formalisierung der Thesen, die einen
echten empirischen Test ermöglicht, der über die beispielhafte
Illustration hinausgeht.
Immerhin bleibt Frerichs nicht bei seinen theoretischen Überlegungen
stehen, die für sich genommen bereits eine Dissertation voll gerechtfertigt
hätten, sondern bemüht sich um eine explorative Empirie. Für die
Untersuchung der Ereignisentwicklung und die “Überprüfung” der
chaostheoretischen Thesen sammelte er das vollständige Material
von sieben Nachrichtenagenturen zu einem unerwarteten Ereignis.
Darüber hinaus diente ein ein- bis dreitägiger Besuch bei den
Nachrichtenredaktionen von acht öffentlich-rechtlichen, vier privat-kommerziellen
Hörfunksendern und von drei Nachrichtenagenturen der Beobachtung
der stundenaktuellen Berichterstattung. Mit dieser Methode identifiziert
er 13 Arbeitsschritte von der ersten Ereigniswahrnehmung bis zur
publizierten Nachricht und klassifiziert er die Redaktionsorganisationen.
Es handelt sich hierbei nicht um eine systematische Einzelfallstudie,
sondern eher um einen unsystematischen Vergleich. Dem jeweils
ersten, beschreibenden Teil folgt die Ableitung der Thesen. Dies
ist nicht die schlechteste Art, gleichermaßen induktiv und deduktiv
zu Thesen zu gelangen. Geradezu nebenbei wird der im Konstruktivismus
und in der Systemtheorie so wichtige Kopplungsbegriff präzisiert,
dies allerdings nicht durch eine Definition, sondern durch die
qualitativen Auswirkungen der Kopplung: Koordination, Kooperation,
Konsens, Konvention, Kreativität und Kontrolle.
Dennoch setzt hier die Kritik an Frerichs' Vorgehensweise ein.
Die Thesen (S. 298 ff.) enthalten zumeist nicht Zusammenhangspostulate
mehrerer Variablen, sondern beschreiben eher die Operationalisierungsbereiche
der einen Variablen Qualität der Nachrichtenkonstruktion. Der
Qualitätsbegriff als abhängige Variable wird selbst allerdings
nicht definiert.
Problematisch ist ferner die oben bereits erwähnte Unterstellung
einer Emergenz vom System "Mensch" bzw. von der Person
auf das soziale System der (Nachrichten-)Redaktion, das wiederum
als Teil des Systems Nachrichtenjournalismus angesehen wird. Frerichs
stellt sich damit gegen das Verständnis von Luhmann und Rühl,
ohne die Frage, wie der Übergang von Person zu Organisation und
zu Funktionssystem möglich sei, ausreichend beantworten zu können.
Wenn tatsächlich persönliche Charakteristika der Nachrichtenredakteure
in einzelne Entscheidungen der Nachrichtenkonstruktion eingehen,
so ist dies nicht mehr auf eben diese persönlichen Eigenschaften
- und Frerichs meint hier nicht nur die berufsbezogenen, sondern
prinzipiell alle individuellen Eigenschaften - zurückführbar.
Der Grund dafür besteht darin, dass trotz Makrostabilität (des
Journalismus) Mikrodiversität (der Journalisten als Personen!)
möglich und notwendig ist. Emergenz ist gerade dadurch definiert,
dass sie nicht umkehrbar ist. Es wäre schon forschungsökonomisch
unmöglich, alle möglichen individuellen Eigenschaften zu erfassen,
um je individuell diejenigen zu identifizieren, die in bestimmten
Situationen handlungsrelevant werden konnten. Welche Persönlichkeitsmerkmale
im Einzelnen eine Rolle spielen bei der Nachrichtenkonstruktion,
ist nicht vorhersehbar - so müsste man mit dem Chaostheoretiker
Frerichs gegen ihn selbst argumentieren. Da folglich nur wenige
Variablen erhoben werden können, ist die Konzentration auf systemisch-professionelle
Eigenschaften der Journalisten und der Organisationen erforderlich.
Der Erkenntnisgewinn der Systemtheorie besteht gerade darin, die
Mikrostrukturen der individuellen Persönlichkeit als Rauschen
auszublenden und trotzdem die Makrostrukturen beobachten zu können.
Persönlichkeitsmerkmale interferieren a) eher zufällig statt systematisch
und b) eher punktuell statt generell. Das Hauptproblem besteht
dann nicht in der Identifikation aller möglicher Einflüsse, sondern
in der Auswahl der relevanten Variablen: Wie weit reichen das
Geschlecht, die politische Einstellung usw. systematisch (überzufällig)
in systemische Abläufe hinein?
Frerichs dehnt schließlich den Anspruch seiner Studie über den
analytischen Wert aus und formuliert qualitätsbezogene und ethische
Implikationen aus Chaostheorie und Konstruktivismus. Dies ist
keineswegs ungewöhnlich, da diese Basistheorien selbst stets den
Zusammenhang zur Ethik hergestellt haben. Der Katalog, den Frerichs
zusammenstellt, deckt sich dabei durchaus in weiten Bereichen
mit herkömmlichen Anforderungsprofilen, er ist jedoch theoretisch
deutlich besser hergeleitet und besser an die Praxis angepasst,
als dies ohne Konstruktivismus und Chaostheorie und deren Übertragung
auf die Redaktionsorganisation und die Nachrichtenkonstruktion
möglich gewesen wäre. Allerdings ist deutlich zu trennen zwischen
der Normbegründung und der Normdurchsetzung, wie wir von Habermas
lernen können. Eine Norm lässt sich nur dann durchsetzen oder
anwenden, wenn es die Umstände erlauben und die betreffenden Normanwender
die Normbegründung als solche akzeptieren. Die Akzeptanz der Norm
kann man - neben einer guten Begründung - dadurch steigern, wenn
man nachweisen kann, dass die Norm auch funktioniert und nicht
als bloßes Ideal unerreichbar ist. Für die Journalistik und Journalismusforschung
bedeutet dies, dass sie ihre normativen Vorschläge gut und verständlich
begründen muss, um Resonanz im Journalismus zu erreichen. Ein
Buch wie dieses ist glaubwürdig und einer verständnisorientierten
Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis förderlich, weil es
von einem Praktiker stammt, der sich die Mühe gemacht hat, theoretisch
zu arbeiten, um für die Praxis einen Nutzen zu erreichen.”
Armin
Scholl